Die Emergenz der Anschaulichkeit in Comenius' Orbis sensualium pictus (1658)

Dissertation

Autor*in

Ort, Datum

Wien, Österreich, 20. Juni 2022

Schlagwörter

Kulturtechnikforschung, Visuelle Kultur, Medienarchäologie, Kulturgeschichte, Geschichte der Pädagogik, Medien- und Kommunikationswissenschaften

Text

Einer gängigen Einschätzung zu Folge erhob Johan Amos Comenius (1592-1670) «Anschaulichkeit» zu einer zentralen Maßgabe der Unterrichtsgestaltung, ohne noch diesen Begriff zu prägen. Doch machte er in der Bildenzyklopädie Orbis sensualium pictus (‹Die sichtbare Erdkreis im Bild›) die zugedachte Funktionsweise schulmeisterlich vor: Die 150 «vornehmlichsten Dinge» dieser Welt werden repräsentiert, auf jeweils einer Doppelseite, mittels Holzschnitt, lateinischem Beschreibungstext und deutscher Übersetzung — auch unbedarfte Kinder sollten durch Blättern das darin Besehene aneignen können. Aus der so angestellten Verklammerung von gedruckter Überlieferung und eigenständiger Erfahrung speisen sich bis heute Hoffnungen auf medientechnisch so raffinierte Vermittlung, die es in naher Zukunft erlaubt, körperliche Präsenz aus der didaktischen Gleichung streichen zu können. Das Medium des Buches wird zum universalen Träger eines jeden beliebigen Wissens, das nicht mehr der gleichzeitigen Anwesenheit von Lehrenden und Lernenden erfordert, sondern sich selbst mitteilt. Das medienarchäologische Studium dieses Buchs aus dem 17. Jahrhundert soll klären, welche unreflektierten Prämissen dem Begriff der Anschaulichkeit zu Grunde liegen. Sofern man ihn thematisiert, wird er meist vorschnell auf Visualisierung der Lerninhalte reduziert. Aus den technologischen Bedingungen der Schriftbildlichkeit um 1650 emergiert ein Code in der Darstellung von Wissen. Durch diesen Code gehen die Kulturtechniken des Lehrens in ein Druckwerk ein und disziplinieren die Lesenden im Zuge der Lektüre. Entgegen der üblichen, alltagssprachlichen Beschreibung einer gelungenen, kurzweiligen wie natürlich eingängigen Information zeigt sich, dass sich hinter spielerischer Wissensvermittlung ein rigides Organisations- und Gestaltungsprinzip von Unterricht verbirgt. Eine kulturhistorische Bestimmung der Anschaulichkeit vermag daher pädagogische Gegenwartsphänomene zu erhellen. Gleichzeitig konnte der Anspruch Wissen zu vermitteln in außerpädagogische Bereiche migrieren, durch die Verdinglichung der Anschaulichkeit in Form eines Buchs. Sie ist daher auch als zentrales Kriterium des graphischen Interface-Designs ubiquitär in unsere Alltagskommunikation eingedrungen.

Text

English Abstract It is commonly accepted that Jan Amos Comenius (1591-1670) defined visualization as a requirement for teaching (‹Anschaulichkeit›), but without coining such a precise notion. Within the illustrated encyclopedia Orbis sensualium pictus he gave a best practice example for this function: The world’s 150 ‹most important› things are represented each on one double page, with a woodcut, a Latin description and a German translation — also children should be able to acquire knowledge while flipping through pages. This interlacing of printed information and experience is fueling hopes of a technical refined teaching practice until nowadays: In a near future we should finally be able to transmit knowledge without any physical presence. Basis for this assumption is that the book became a universal vehicle in the first place. So it doesn’t necessarily require the presence of teacher and pupil at the same time anymore to pass on knowledge. This media archaeological study of a 17th century book should help to understand how not reflected premises determine conceptions of visual thinking and learning. As we are concerned with it, «Anschaulichkeit» is often reduced to the visualization of curricular contents: pictures are illustrating text. But from the media-technological conditions of texts and images emerges a rigid code to express knowledge. Through this code the cultural techniques of teaching and practical classroom management become cold print and are disciplining the reader’s mind while reading. In contrast to the usual description of an entertaining, vivid and naturally clear piece of information, such playful ways of teaching and learning are conceived as principles to organize and design the communication of knowledge. The analysis of the visual cultures in historical terms mean to elucidate educational phenomena of the present day. At the same time the demand of passing on knowledge could migrate into other not-explicitly pedagogical fields, because of the reification of educational visual culture (‹Anschaulichkeit›) in form of a book. It has become a main criteria of graphical user interface-designs and is therefore ubiquitous in our day-to-day communication.

Band, Seiten

303

Sprache, Format, Material, Ausgabe/Auflage

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Veröffentlicht Von: Simon Huber | Universität für Angewandte Kunst Wien | Veröffentlicht Am: 09. August 2022, 11:03 | Geändert Am: 24. November 2022, 09:11