ENGAGE! Kunst, Politik und kultureller Widerstand
Editor
Location, Date
Salzburg, Österreich, 2013
Keywords
Cultural Studies, Fine Arts
Volltext
Zum Thema „ENGAGE! Kunst, Politik und kultureller Widerstand“ Es war das Jahr 2002, als Stephen Duncombe feststellte, dass die bewusste Entscheidung, aktiv an dem zu arbeiten, was Kultur ist und was Kultur sein kann, politische Bedeutung hat – dies gilt v.a. in einer Gesellschaft mit dem eingeschriebenen Funktionsprinzip, das zu konsumieren, was andere für einen produzieren. Seit geraumer Zeit kann man zudem beobachten, dass in einem besonderen Bereich der Kultur, der Kunst, vermehrt Politik gemacht wird (vgl. u.a. Cirio und Ludovico 2011star, Lahr 2009star). Der Live-Auftritt einer russischen Punk-Band in einer Moskauer Kathedrale vor einem Jahr fand wohl nur von einigen wenigen ZuschauerInnen Beachtung, die mediale Berichterstattung zur kurzen Performance von Pussy Riot sowie zum Gerichtsprozess hingegen ging um die Welt. Mit ihren Punk-Gebeten legten die Künstlerinnen den Finger auf eine politische Wunde Russlands, einem Land, in dem Politik und Kirche eng verwoben sind (Diez et al. 2012star; Laarz 2012star). In den vergangenen Monaten ereignete sich noch ein zweiter medialer Vorfall mit künstlerischer Beteiligung in Russland: Gérard Depardieu, viel beachteter französischer Schauspieler, wurde aus Protest gegen die neue Steuerpolitik des Kabinetts Hollande kurzerhand Russe und tanzt und singt seither gemeinsam mit international geächteten Politikern wie Ramsan Kadyrow. Und auch Rechtsextreme in Deutschland und Österreich haben das Potential kultureller und künstlerischer Intervention erkannt. Sie haben sich einen zeitgemäßen Anstrich verpasst, veranstalten Hip Hop-Konzerte, kopieren das Erscheinungsbild der extremen Linken und haben ihren Kampf auf Social Media-Plattformen verlagert (Brücken 2013)star – kurzum, sie haben sich der „kulturelle[n] Limitierung“ (Schedler 2010)star der neonazistischen Szene entledigt. Kultureller Widerstand, die Rolle der Kunst und die Verbindungen zur Politik eröffnen ein weites Feld, das die AutorInnen in dem von Duncombe herausgegebenen Sammelband Cultural Resistance Reader über eine Fülle sowohl (zeit-)historischer als auch zeitgenössischer Beiträge abzustecken versuchten. Mit der zweiten Ausgabe von p/art/icipate stellen wir die Frage, was sich in den letzten zehn Jahren sowohl im praktischen als auch theoretischen Bereich – unter besonderer Berücksichtigung der mittel- und osteuropäischen Region – in diesem weiten Feld getan hat. Kulturellen Widerstand kann man auf unterschiedlichen Folien analysieren: So ist er topografisch zu verorten, wobei sich in diesem Fall v.a. der urbane Raum als besonders produktiv erwiesen hat (vgl. u.a. Mörtenböck et al. 2011star; Naik et al. 2009star). Zudem lässt sich das Aufkommen kulturellen Widerstands und sozial engagierter Kunst in (zeit-)historischen Epochen und in unterschiedlichen Genres beobachten (vgl. u.a. Bishop 2012)star. Auch eignen sich spezielle Medien (vgl. u.a. Duncombe 1997star; Zobl et al. 2012star) und Technologien (vgl. u.a. Schneider et al. 2012star; Strouhal et al. 2008star) dafür, verschiedene Kategorien der aktiven Aneignung und Weiterentwicklung von Kultur zu beschreiben. Anhand dieser groben Einteilung möchten wir im Folgenden die Beiträge der aktuellen Ausgabe von p/art/icipate vorstellen. Topos Um sich (urbanen) Raum anzueignen, verfolgt man gemeinhin zwei Strategien. Einerseits kann man das (neu gewonnene) Territorium markieren, die Grenzen sichtbar machen. Andrej Holm beschreibt anhand internationaler Beispiele und der aktuellen Situation in Berlin die Grabenkämpfe, die zwischen lokalen Initiativen und globaler Kapitalismuslogik in einzelnen Stadtgebieten ausgefochten werden. Jedoch gelingt es den kleinen und teilweise äußerst heterogenen Gruppen vermehrt, über nationale und internationale Zusammenschlüsse und die gemeinsame Forderung „Recht auf die Stadt“ eine Klammer zur Kooperation zwischen den verschiedenen stadtpolitischen Akteuren zu bilden. Einem dieser lokalen Akteure widmet sich Andreas Mayer-Brennenstuhl, der sich als Teil der Künstlergruppe SOUP dem Protest gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ anschloss. Eine räumliche Plastik wurde errichtet, um die Besetzung des Schlossgartens sowie einen Ort der Begegnung zu markieren. Später errichteten die KünstlerInnen einen Wall um das Gelände. Ironie der Geschichte: Teile des dafür verwendeten Bauzauns sind heute im Museum verwahrt, der Bahnhof hingegen wird auch unter einer neu gewählten Landesregierung weitergebaut. Dass topografische Territorien auch sprachlich markiert werden können, zeigen Rosa Reitsamer und Rainer Prokop. Die beiden AutorInnen haben jugendliche Hip Hop-Musiker der zweiten Generation türkischer MigrantInnen in Wien interviewt, die ganz bewusst den globalen Musikstil mit lokalem Dialekt anreichern und sich so am diskursiven Kampf um die Bedeutung von Zeichen und Symbolen beteiligen – und letztlich ein Stück „Heimat“ erobern. Andererseits kann neben der Strategie der Sichtbarmachung und dem Ziehen von Grenzen das Gehen der Stadtaneignung dienen. Elke Krasny beschreibt den subversiven Akt des Gehens aus historischer Perspektive und stellt ein Projekt vor, bei dem sie der städtebaulichen Zukunft und ihren Auswirkungen auf Körper und Subjekte im Hongkong des Frühjahres 2011 nachgegangen ist. Kunst Ist man nach widerständigen Praxen auf der Suche, so bietet sich die Kunstgeschichte als eine reiche Fundstelle an. Giulia Cilla und Viola Hildebrand-Schat analysieren zwei gänzlich unterschiedliche zeithistorische Fälle und zeigen dabei dennoch vergleichbare künstlerische Strategien auf. Cilla untersucht die visuellen Praxen, mit denen sich dissidente Gruppen im kulturellen Kampf gegen die Verschleppungen während der lateinamerikanischen Militärdiktaturen zu Wehr setzten. Hildebrand-Schat widmet sich in ihrem Beitrag der Situation Russlands nach 1989 am Beispiel des Künstlerkollektivs Chto delat?, das seit 2003 auf unterschiedlichen Ebenen und mittels einer Vielzahl von Medien agiert. In beiden Fällen lässt sich zeigen, dass künstlerische Visualisierungsstrategien von Nichtgezeigtem und Nichtgesagtem als Ausgangspunkte dazu verwendet werden, einen breiteren, über den Kunstmarkt reichenden Diskurs anzustoßen. Einblick in die tatsächliche künstlerische (kollektive) Arbeit gewähren Shushan Avagyan (Queering Yerevan) und Günther Friesinger (monochrom). Sie legen ihre Motivation offen, in Anbetracht schwieriger Produktions-/Arbeitsverhältnisse, trotzdem Kunst zu machen. Einen umfassenden Blick auf die Arbeit von künstlerischen Kollektiven im Feld des kulturellen Widerstands hat auch der steirische herbst 2012 geboten. Hildegund Amanshauser hat Veronica Kaup-Hasler, eine der KuratorInnen des groß angelegten siebentägigen Marathon-Camps Truth is concrete, zu den Erkenntnissen befragt, die sie aus den zahlreichen Veranstaltungen mitnehmen konnte. Marina Belobrovaja und Jürgen Riethmüller werfen einen (notwendigen) kritischen Blick auf die Überschneidung von Kunst und Politik. Belobrovaja widmet sich der künstlerischen Auseinandersetzung mit der zunehmend verschärften Einwanderungspolitik im Speziellen in der Schweiz. Sie fragt, was im Sinne der Ästhetik und künstlerischen AutorInnenschaft noch tragbar ist und wo das Ausnützen von Einzelschicksalen zur persönlichen Bereicherung der KunstakteurInnen beginnt. Riethmüller nähert sich dieser Frage ausgehend vom politischen Widerstand und eröffnet seine Polemik mit der präzise formulierten Frage, wieso überhaut politischer Aktivismus so etwas wie das Streben nach künstlerischen Weihen bräuchte. Eine Perspektive, die bislang gerne außeracht gelassen wurde, nimmt Luise Reitstätter ein, indem sie sich in ihrem Beitrag den Personen im Kunstbetrieb widmet, die lange Zeit als gleichförmige Masse betrachtet wurden: den BesucherInnen. Die Wandlung des Kunstbegriffs in den letzten Jahrzehnten geht einher mit neuen künstlerischen Strategien, das Publikum in das Kunstwerk miteinzubeziehen. Dass sich allerdings die Menschen, die die Orte der Kunst aufsuchen, nicht so leicht kategorisieren lassen, deutet Reitstätter als widerständige Praxis. Und um diese, die künstlerische Perspektive auf kulturellen Widerstand abzuschließen, haben die beiden HerausgeberInnen Stephen Duncombe in einem Interview zu seinen Erfahrungen befragt, die er mit und nach der Herausgabe des Cultural Resistance Reader sammeln und welche Projekte er seither umsetzen konnte. Technik Folgt man Günther Anders’ Aphorismus, die Natur des Menschen sei seine Künstlichkeit (Anders 1956: 309)star, so kann man ergänzend formulieren, die Künstlichkeit sei die Kultur des Menschen. Bindeglied zwischen den Polen Natur und Kultur wäre demnach die Technik und mit ihr eines der machtvollsten Instrumente der Gesellschaft. Folglich liegt es nahe, kulturelle Widerständigkeit über Technik zu betreiben. In diesem Kontext unternimmt Geert Lovink einen detaillierten Blick auf die Genese von WikiLeaks und die Auswirkungen, die diese neue Technik der Informationsweitergabe sowohl auf die journalistische Arbeit als auch die Politik hat. In dem von Stefanie Wuschitz initiierten Hackerspace „Mz. Balthazar’s Laboratory“ steht ganz klar im Mittelpunkt, selbst Hand an die Technik zu legen: Maschinen des Alltags werden zerlegt und beim Zusammenbauen neu interpretiert – und damit gehackt. Mittels dieser Vorgangsweise erlernen die Teilnehmerinnen das notwendige Wissen, um selbstermächtigt Technik für ihre Zwecke anzuwenden. Praxis p/art/icipate als eJournal des Programmbereichs Contemporary Arts & Cultural Production stellt sich der Herausforderung, zwischen Praxis und Theorie zu vermitteln. Dass dies ebenfalls in der Lehre so gehandhabt wird, beweisen die Projekte, die im Laufe des Wintersemesters 2012/2013 am Programmbereich entstanden sind. Das Symposium Context Hacking – Schmäh, Intervention und Inszenierung in der Kulturproduktion (koordiniert von Florian Bettel und Günther Friesinger) lud fünf Gastvortragende nach Salzburg ein. Referate und Workshops waren bei der Konzeption dieser Veranstaltungsreihe als komplementäre Bestandteile eingeplant, die Studierenden reflektieren die erarbeiteten Inhalte in Form von zwanzigminütigen Videobeiträgen. Das Scheitern als künstlerische Strategie wurde im Rahmen einer Übung gewürdigt und dabei ein Freiraum eröffnet, in dem sich Studierende fernab des „zum Erfolg verdammt Seins“ bewegen konnten. Das (vorläufige) Ergebnis ist eine Fernsehsendung, die auf FS1 live ausgestrahlt wurde. Und warum Social Media sowohl Chancen für den Kulturbetrieb als auch große Risiken bedeuten, konnte bei 900 Millon Friends? intensiv beleuchtet werden. Auf Basis einer theoretischen Auseinandersetzung und von Beispielen aus der künstlerischen Praxis (Gäste: Günther Friesinger, Gordan Savičić) entwickelten die Studierenden Projekte, deren Umsetzung sie im Jänner 2013 an einem ganz besonderen Ort präsentieren konnten. So hoffen wir, mit der zweiten Ausgabe des eJournals eine anregende Lektüre zu bieten und freuen uns auf eine intensive Diskussion.
Language, Format, Material, Edition
German, English
Activity List
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- Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst, Universität Mozarteum, Universität Salzburg: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten #02. . 2013 -
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