PALIMPSEST

Künstlerisches Forschungsprojekt

Projektleitung

Sophie Publig , Mihaly Andras Nemeth

Dauer

12. Juni 2022–18. Oktober 2022

Schlagwörter

Medienarchäologie, artistic research, Ruinen, Architektur, Bauökologie

Text

Nicht nur die Vergangenheit, aber auch nie tatsächlich gewordenen Zukünfte werden gegenwärtig, wenn wir einer Ruine begegnen. Die Vergangenheit wird überliefert, da wir die nicht mehr intakten Architekturen als Spuren vergangener Paradigmen lesen. Die Ruine ist Hinweis auf die Bauweise und damit verbundenem Wissen, Machtverhältnissen, Interessen vergangener Zeiten. Die archäologische Betrachtung rekonstruiert die Ruine zu einem architektonischen Dispositiv vergangener Epochen, jedoch konstituiert die verfallende Ruine auch einen neuen, symbolischen Wert, der der Architektur früherer Zivilisationen zugesprochen wird. Die Ruine lässt eine Epoche als ursprünglich und kohärent erscheinen, deutet einen vermeintlichen klaren Schnitt zwischen Jetzt und Damals an. Diese Täuschung vom Erstarren der Veränderung der ruinös gewordenen Architektur lasst uns vergessen, wer oder was vor und nach ihr diesen Ort belebt hat. Dabei entstehen und verschwinden Ruinen ständig, dass nichts für immer hält, vergessen wir gerne und das Vergessen macht die Erinnerung selbst zur Ruine. Jedoch kann uns die immer erneute Umnutzung einer verfallenden Architektur von solchen Täuschungen befreien und zugleich einen Zugang zu Veränderungen unserer Geschichte bieten. Ruinen sind nie Orte einer linearen Zeitlichkeit, sie sind die gegenwärtige Verknotung virtueller Zukünfte und fortwirkender, sich immer anders zeigender Vergangenheit. So resultiert auch unsere Betroffenheit von der Ruine nicht nur aus der Erkenntnis über etwas Gewesenes, noch nur aus der Sichtbarwerdung der Vergänglichkeit—das Hervortreten der Natur in der Kultur—sondern auch aus der Tatsache, dass wir selbst fehl am Platz sind. Es wurde nicht mit uns gerechnet. Weder die Arbeiter*innen des Bergbaus noch die Besucher*innen der Landesausstellung begegneten einander, noch haben sie uns erwartet. Die Ruine ist nicht nur die Nähe zu etwas bereits Geschehenem, sondern auch die Nähe zu den gescheiterten Zukünften der Anderen. Da, wo Träume, Utopien und Ideologien aufsteigen und wieder untergehen, kollabieren Natur und Kultur ineinander, sickern durcheinander durch und bauen ein gemeinsames Ökosystem auf, das die Kategorien künstlich und natürlich selbst ad absurdum führt—in Analogie zu den linear begriffenen Kategorien der statischen Vergangenheit und durchgeplanten Zukunft. Diese Ökosysteme sind zahlreich und divers, denn nicht nur die Vorstellungen über die Zukunft, auch die Ruinen ändern sich über die Zeit hinweg. Solange die steinernen Architekturen der Bergwerke mit ihrem Verfall das romantische Bild einer pittoresken Ruine bestätigen—es tun sich Risse in der Struktur auf und Pflanzen klettern auf die Mauer—trotzen Metall, Glas und Blech Äonen der Erosion—sie erscheinen viel mehr als aufgelassene Brache oder werden zu Schutt. So sind verschiedene Ruinen von unterschiedlichen Tieren und Pflanzen, von unterschiedlichen sozialen Klassen und Aktivitäten heimgesucht. Dem Verfall kann jedoch nichts entgehen; Steine und Mörtel zerbrechen, bis die Verwitterung sie zu Sand macht. Eisen und Blech korrodieren in Relation zu dem Sauerstoffgehalt ihrer Umgebung. Glas zerbricht, betrübt und zersplittert in unendlich kleine Stücke. Jeder dieser Prozesse dauert tausende, manchmal Millionen von Jahren. Ressourcen entstehen und werden abgetragen, konserviert oder gestohlen, Orte als sehenswürdig oder gefährlich eingestuft. So sind die ruinösen Architekturen in Heft, die gegenwärtige Ausstellung und auch zukünftigen Architekturen des Ortes weder Vergangenheit noch ein Neuanfang, sondern sind fester Teil eines ewigen Kreislaufs aus Veränderung, Verwesung, Verformung, Wiederauftauchen und Überschreibung.

Text

Das Projekt “Palimpsest” verhandelt die Heft in Hüttenberg als Ruine zwischen statischer Schrift und sich stetig wandelndem Verfall. Wir verstehen die Ruine als hybrides Portal widersprüchlicher Zeitlichkeiten: Ihr Verfall macht sie zur konstanten Erinnerung an die Vergangenheit, gleichzeitig ist ihr gegenwärtiges Dasein die Prophezeiung, dass es in der Zukunft kein Entrinnen vor dem Verrotten geben wird. Im Falle von Günther Domenigs Umbau der ehemaligen Hochofenanlage wird deutlich, dass gerade die streng zweckgebundene Architektur eines Tages ihren Nutzen überdauert. Doch wie geht es von hier an weiter? Angelehnt an Craig Owens’ Essay fokussieren wir uns auf das Palimpsest als Modell der Ruine: “In allegorical structure, then, one text is read through another, however fragmentary, intermittent, or chaotic their relationship may be; the paradigm for the allegorical work is thus the palimpsest.” Der Prozess des Ein- und Überschreibens ist ökologisch-zyklisch, denn er beschränkt sich auf einen bestimmten Ort, kommt mit limitierten Ressourcen aus, zeichnet sich durch zeitlich heterogene Kollaborationen aus und besitzt darüber hinaus ein aleatorisches Moment. Tatsächlich erscheint die nostalgische Faszination von Ruinen als zutiefst anthropozentrisches Konzept: “Die Ruine des Bauwerks aber bedeutet, dass in das Verschwundene und Zerstörte des Kunstwerks andere Kräfte und Formen, die der Natur, nachgewachsen sind und so aus dem, was noch von Kunst in ihr lebt und was schon von Natur in ihr lebt, ein neues Ganzes, eine charakteristische Einheit geworden ist.” Dort, wo früher Menschen lebten und arbeiteten, sich also ihre Umgebung unterworfen haben, entstehen und entwickeln sich nun weiterhin lebende und nicht-lebende Kreaturen ohne menschliche Intervention. Doch wie könnte ein kollaboratives Werk zwischen Mensch und Ruine aussehen? Dieser Frage möchten wir in unserem Projekt in zwei Teilen nachgehen. Zuerst wird ein gemeinsamer Text über die Ästhetik und Ethik der Ruine verfasst. Dies stellt die erste, mit dem Medium Schrift sehr menschliche Ebene dar. Neben theoretischen Überlegungen soll auch eine genaue Analyse der Baustruktur und -materialität der Heft die Ortsspezifik des Projekts in den Vordergrund stellen und die spekulative Fragestellung, was in Zukunft von der Heft übrig bleiben könnte, beantworten. Im zweiten Schritt soll der Text dann an die nicht-menschlichen Akteur*innen der Heft übergeben und in die Architektur eingeschrieben werden. Dabei sollen verschiedene Möglichkeiten erprobt werden, den Text bzw. Exzerpte dessen nicht-invasiv in der Heft zu installieren. Die Ergebnisse der Analyse werden die formale Ebene dieses Teils bestimmen, angedacht sind zum Beispiel das Einschreiben der Buchstaben in die Wände mittels Moos, eine digitale Projektion oder eine analoge Belichtung mittels Schablonen. Auf diese Art und Weise werden die menschlichen Überlegungen in den Prozess der Ruine eingeschrieben und als Teil des Ökosystems in die Heft aufgenommen.

Mediendateien

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Veröffentlicht Von: Sophie Publig | Universität für Angewandte Kunst Wien | Veröffentlicht Am: 26. Februar 2024, 11:51 | Geändert Am: 26. Februar 2024, 11:51