Wie Verlorenes dauert - Geschichtsphilosophie nach ihrem Ende

Philipp Nolz
Institut für Kunstwissenschaften, Kunstpädagogik und Kunstvermittlung, Philosophie
2024W, wissenschaftliches Seminar (SEW), 4.0 ECTS, 2.0 SemStd., LV-Nr. S05373

Beschreibung

 

 

Wie Verlorenes dauert

 

Wenn es zutrifft, dass man eine bestimmte Sache nicht mehr will, sobald man sie hat, so könnte man umgekehrt vermuten, wirklich glücklich seien erst jene, die etwas verloren haben: Sie wüssten, woran sie sind, wüssten die Sache nun wirklich zu schätzen, da sie fehlt.

Glücklich wäre damit unsere Gegenwart, die sich als ein vielförmiges Danach versteht: post-modern, post-kritisch, post-humanistisch, usw. usf. Die Affirmation eines unbekannten Neuen auf Kosten eines kürzlich Vergangenen ist so neu jedoch nicht. Seit dem Beginn der Neuzeit sind verlorener Gegenstand und unbekannter Begriff vielmehr innig aneinander gebunden, und spätestens in der Geschichtsphilosophie G.W.F. Hegels wurde diese Differenz zur genuinen Zeitlichkeit des begrifflichen Denkens erhoben: der Begriff einer Sache stellt sich erst ein, wenn die Sache aufgehört hat zu wirken, unwirklich geworden ist. Ein so verstandenes Wissen stellt still, was sonst nur beweglich, flüchtig, vergänglich war, verleiht den Dingen eine Dauer außerhalb ihrer selbst. Und doch bleibt jede Form des Wissens an die Ahnung gebunden, dass diese Dauer auf einem Verlust beruht: Die unmittelbare Wirklichkeit scheint immer schon durch das Denken abgeschnitten und lässt sich gleichzeitig erst im Denken als Verlorenes festhalten.

Denken vollzieht sich also am Ort und in Abstand zum verlorenen Ding, das gerade im Verlust dauert, und auf unterschiedliche Weisen die Zeit strukturiert: als verlorenes Ding der Geschichte durchzieht es diese als Riss und kündet zumal sehnsuchtsvoll von der verlorenen Totalität der Vergangenheit, ringt mit dem Vergangenen um ein kraftvolles Leben, oder übermittelt in der Erzählung der Abwesenheit des Lebens dieses noch negativ. Mehr noch drängt das Ding als verlorene phantasmatische Einheit von Ich und Welt am Bewusstsein vorbei an die Oberfläche und wird etwa in Trauer und Melancholie erfahrbar, bietet aber auch jenseits der Trauer die „Kraft der ausgestorbenen Dingwelt“ auf, die es politisch und philosophisch in einer „Tradition der Unterdrückten“ zu mobilisieren gilt. Und indem das verlorene Ding politisch immer an den Platz ihres Ausschlusses zurückkehrt, stellen dessen Wirkungen – in Aufständen, Erhebungen, Unruhen – unaufhörlich die administrative Ordnung des Politischen infrage, verzeitlicht die Geschichte unzeitig.

Im Kurs sollen diese verschiedenen Modalitäten des Verlustes vermessen werden, um einiger symptomatischer Punkte habhaft zu werden, von denen sich die Gegenwart, trotz oder gerade in ihren unzähligen und endlosen Enden nicht zu lösen vermag. Es scheint immerhin so, als stecke gerade im Verlust – Lust.

 

Kursliteratur:

 

Hegel, G.W.F. (1994 [1822]): Die Vernunft in der Geschichte.

Lukacs, Georg (1915): Die Theorie des Romans.

 

Nietzsche, Friedrich (1874): Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.

 

Freud, Sigmund (1914): Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten.

_______ (1917): Trauer und Melancholie.

_______ (1940): Die Ich-Spaltung im Abwehrprozess.

Lacan, Jacques (1949): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion.

 

Niethammer, Lutz (1989): Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?

Jamson, Fredric (2020): The Benjamin Files. S. 219-247.

 

Benjamin, Walter (1936): Der Erzähler.

_______ (1940): Über einige Motive bei Baudelaire.

_______ (1940): Zum Begriff der Geschichte.

 

 

Prüfungsmodalitäten

 

 

Abschlussarbeit im Umfang von 5 Seiten, entweder als

1) Kommentar zu einem der im Kurs behandelten Texten, oder

2) Ausarbeitung einer der im Kurs besprochenen Themen;

Termine

15. Oktober 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26 (Vorbesprechung)
22. Oktober 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26
29. Oktober 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26
05. November 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26
12. November 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26
19. November 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26
26. November 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26
03. Dezember 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26
10. Dezember 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26
17. Dezember 2024, 10:00–12:00 Seminarraum 26
07. Jänner 2025, 10:00–12:00 Seminarraum 26
14. Jänner 2025, 10:00–12:00 Seminarraum 26

LV-Anmeldung

Von 26. August 2024, 00:00 bis 31. Dezember 2024, 00:01
Per Online Anmeldung

Lehramt: Unterrichtsfach kkp (Bachelor): Wissenschaftliche Praxis: FOR: Lehrveranstaltungen nach Wahl aus Wissenschaftliche Praxis 067/003.80

Lehramt: Unterrichtsfach kkp (Master): Wissenschaftliche Praxis: Lehrveranstaltung nach Wahl aus wissenschaftlicher Praxis, SE 067/003.80

Lehramt: Unterrichtsfach kkp (Erweiterungsstudium): Wissenschaftliche Praxis: FOR: Seminar aus dem Bereich Kunst- und Kulturwissenschaften 067/003.25

Lehramt: Unterrichtsfach kkp (Erweiterungsstudium): Wissenschaftliche Praxis: FOR: Lehrveranstaltungen nach Wahl aus Wissenschaftliche Praxis 067/003.80

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TransArts - Transdisziplinäre Kunst (Bachelor): Theoretische Grundlagen: Theoretische Grundlagen 180/003.01

Expanded Museum Studies (Master): Wahlfächer: Philosophie 537/080.18

Bühnengestaltung (2. Studienabschnitt): Kunsttheorie und Kulturwissenschaften: Philosophie 542/207.04

Medienkunst: Transmediale Kunst (2. Studienabschnitt): Wissenschaft, Theorie und Geschichte : Philosophie 566/208.08

Medienkunst: Digitale Kunst (2. Studienabschnitt): Wissenschaft, Theorie, Geschichte: Philosophie 567/208.08

Kunst- und Kulturwissenschaften (Master): Wahlbereich 1: Philosophie 568/005.07

Kunst- und Kulturwissenschaften (Master): Wahlbereich 2: Philosophie 568/006.07

Cross-Disciplinary Strategies (Master): Studienfelder 4-6: Studienfeld 4: Philosophie 569/022.04

Design: Design und narrative Medien (2. Studienabschnitt): Methodische und theoretische Grundlagen: Geistes- und Kulturwissenschaften 576/203.02

Design: Kommunikationsdesign (2. Studienabschnitt): Methodische und theoretische Grundlagen: Geistes- und Kulturwissenschaften 577/203.02

Konservierung und Restaurierung (2. Studienabschnitt): Geisteswissenschaften: Kunst- und Kulturgeschichte 588/204.10

Bildende Kunst (2. Studienabschnitt): Wissenschaftliche und forschende Praxis: Kunsttheorie, Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte, Philosophie 605/202.01

Bildende Kunst (2. Studienabschnitt): Wissenschaftliche und forschende Praxis: frei wählbar aus wissenschaftliche und forschende Praxis 605/202.80

Design: Angewandte Fotografie und zeitbasierte Medien (2. Studienabschnitt): Methodische und theoretische Grundlagen: Geistes- und Kulturwissenschaften 626/203.02

Cross-Disciplinary Strategies (Bachelor): Philosophie: Vertiefungs-/Anwendungsphase 700/003.20

Mitbelegung: möglich

Besuch einzelner Lehrveranstaltungen: möglich