Theorie-Seminar

Theresia Prammer
Institut für Sprachkunst, Institut für Sprachkunst
2023W, wissenschaftliches Seminar (SEW), 5.0 ECTS, 2.0 SemStd., LV-Nr. S04410

Beschreibung

Abschreiben

Fluchtwege aus der Literatur

1967 verkündete Roland Barthes: „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“ Von diesem Prozess ist im Zeitalter der Cyberliteratur nicht mehr viel zu bemerken; es wird so viel Text generiert wie noch nie, aber die Sinnfrage steht im Raum und sie lässt sich weder überschreien noch überschreiben. 

Wo Literatur sich als Reflexionsraum und Auffangbecken für die großen Menschheits-Krisenherde bewährt, stößt die Fähigkeit, Krise und Auflösung literarisch zu reflektieren, doch an ihre Grenzen – nicht zuletzt die Grenzen der Sprache. Dabei ist das Ringen mit den Fragen der Existenz von der Frage nach dem Warum (oder Wozu?) des Schreibens gar nicht zu trennen. In dem Maße, wie der literarische Ausdruck auf den Druck der Erfahrung reagiert, ist er lebhaftes Kontern; als Vollzug einer Form, die der Mitteilung korrespondiert, spricht er unbeirrbar für sich. Samuel Beckett über James Joyce: „Sein Schreiben ist nicht über etwas, es ist dieses Etwas selbst“.

Ließe sich da vielleicht sogar auf die Idee verfallen, die Schreibschulen vorübergehend in Schweigschulen zu verwandeln? Denn Schweigen ist fast immer gut genutzte Zeit und vorübergehender Aussageverzicht kann auch Formerweiterung bedeuten oder auf Durchgeistigung hindeuten. Wer ein Buch wirklich in sich aufnimmt, übersetzt oder zur Gänze abschreibt, muss vielleicht keines mehr schreiben; wer eine Poetik der Reduktion konsequent vorantreibt, trägt zum ressourcenbewussten Handeln bei.

Im Seminar wollen wir früheren Krisen des Schreibens und den Bedingungen ihrer Äußerung ebenso nachgehen wie der damit zusammenhängenden Topographie möglicher „Fluchtwege“ aus der Literatur: in ihren sprachkünstlerischen Techniken, wortreichen Verwerfungen, stillen Verzweiflungen und heimlichen Koketterien. Wir werden über den Sturz ins Bodenlose sprechen, über Drogen, Mystik und Musik, und über die Apokalypse, die der Literatur irgendwann sowieso ein Schnippchen schlägt. Es wird erlaubt sein, das Schreiben zu schwänzen, nicht aber das Lesen, ohne das kein Schreiben gilt.

 

10.10.2023 - 10:00 bis 15:00 | Seminarraum 06 (OKPV, 2.OG)

11.10.2023 - 10:00 bis 15:00 | Seminarraum 06 (OKPV, 2.OG)

17.10.2023 - 10:00 bis 15:00 | Seminarraum 06 (OKPV, 2.OG)

18.10.2023 - 10:00 bis 15:00 | Seminarraum 06 (OKPV, 2.OG)

14.11.2023 - 10:00 bis 15:00 | Seminarraum 06 (OKPV, 2.OG)

15.11.2023 - 10:00 bis 15:00 | Seminarraum 06 (OKPV, 2.OG)

Prüfungsmodalitäten

Prüfungsmodalitäten und engere Literaturauswahl nach Absprache in der 1. Seminareinheit

 

Mögliche Literatur:

 

Ilse Aichinger: Kleist Moos Fasane (1987)

Ingeborg Bachmann: Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe (2017)

Walter Benjamin: Die Technik des Schriftstellers in 13 Thesen (1928)

Giovanni Boccaccio: Dekameron (1470), 51. Novelle

Gilles Deleuze: Kritik und Klinik (dt. von Joseph Vogl, 2000)

Michael Donhauser: Waldwand. Eine Paraphrase (2016)

Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch (1854) 

Hugo von Hofmannsthal: Chandos-Brief (1903)

Franz Kafka: Erzählungen, Briefe, Tagebücher

Christine Lavant: Briefe 

Hermann Melville: Bartlebly, the Scrivener (1853)

Gedichte und Schriften von Fernando Pessoa, Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos 

Arthur Rimbaud: Ein Jahr in der Hölle (frz. 1873)

Vittorio Sereni: Il silenzio creativo (1962)

Robert Walser: Mikrogramme (1924-1933), Der Spaziergang (1917)

Unica Zürn: Anagramme (1954)

 

 

 

 

 

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Ein paar Anknüpfungspunkte:

 

„Vieles wäre / Zu sagen davon.“ (Friedrich Hölderlin, „Der Ister“, ca. 1802-1806)

„Daß zwei in mir kämpfen, weißt Du. (...) Über den Verlauf des Kampfes bist Du ja durch 5 Jahre durch Wort und Schweigen und ihre Mischungen unterrichtet worden (...).“ (Franz Kafka an Felice Bauer, 30. September oder 1. Oktober 1917)

„Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel“ (Franz Kafka an seine Schwester Ottla, 10. Juli 1914)

„Ich schließe mein Notizbuch / Und male weiche, graue Striche / Auf die Rückseite der Hülle dessen, was ich bin…“ (Àlvaro de Campos, 1913-1914)

„Die fremden Sprachen hast du schon gelernt, doch so leicht bleibt es nicht. Deine eigene Sprache ist viel schwerer. Noch schwerer wird es sein, lesen und schreiben zu lernen, doch am schwersten ist es, alles zu vergessen.“ (Ilse Aichinger, „Spiegelgeschichte“, 1949)

 „Jeden Tag das Nichtschreiben üben.“ (Ilse Aichinger, Kleist, Moos Fasane, 1985)

„Ich hatte jahrelang in Büchern und Schriften existiert, die nichts anderes als Bücher und Schriften gewesen wären, in dem muffigen Geruch der verschimmelten und vertrockneten Geschichte, fortwährend so, als ob ich selbst schon Geschichte gewesen wäre. Jetzt existierte ich in der Gegenwart, in allen Gerüchen und Härtegraden.“ (Thomas Bernhard, Der Keller, 1976)

„Die Kunst erweitern? / Nein. Sondern geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.“ (Paul Celan, „Meridian-Rede“, 1960)

„So / muss man sich begnügen / mit einem halben Sprechen. Einmal geschah es, / dass einer ganz zu sprechen wagte / und gänzlich unverstanden blieb. Gewiss / hielt er sich für den letzten / Sprecher. Doch es kam anders: / Alle sprechen, nach wie vor / nur die Welt / ist seither stumm.“ (Eugenio Montale, Satura, 1971)

 

LV-Anmeldung

Per Online Anmeldung

Sprachkunst (Master): Theorie: Theorie-Seminar 570/003.10

Mitbelegung: möglich

Besuch einzelner Lehrveranstaltungen: möglich