Mediale, experimentelle und interdisziplinäre Formen der Sprachkunst

Dagmara Kraus
Institut für Sprachkunst, Institut für Sprachkunst
2021S, Vorlesung und Übungen (VU), 2.0 ECTS, 2.0 SemStd., LV-Nr. S03744

Beschreibung

Moritaten

 

„Städte brennen ab und Wälder, / Berge knicken und verschwinden, / oben unten vorne hinten, / und die Nächte werden kälter. // Mauern stürzen, Dächer brechen, / und im nächsten Augenblick / wächst es weich und bleich und dick / aus den feuchten Innenflächen.“ ­– So unheimlich, so dramatisch beginnt Ror Wolf 2011 seine Moritat vom augenblicklichen Stand der Dinge. Gebessert hat sich seither, knapp zehn Jahre später, die Lage der Welt naturgemäß nicht. Doch obendrein fehlt es uns jetzt noch mehr als zuvor – Ror Wolf ist letztes Jahr verstorben – an Moritatendichter*innen, um die Ereignisse der Gegenwart für die Mitwelt in (sprech-)gesungenen Versen festzuhalten.  

Das Wort „Moritat“ ist eine mehrsprachige Kontamination. Es scheint aus dem Lateinischen entlehnt und sich über das spätmittelalterliche „moritas“ bzw. die französische, theatralische „moralité“ zur „Moritat“ entwickelt zu haben, wobei in ihm sowohl das rotwelsche Wort „moores“, „Lärm und Schrecken“, als auch zumal das deutsche Kompositum „Mordtat“ mitschwingen. Von heute aus betrachtet, lässt sich auch „Moria“ in „Moritat“ hineinhören und wer versucht, wie es hier der Fall sein soll, die totgesagte Gattung wiederzubeleben, kommt, scheint mir, um diese neue Konnotation kaum umhin.

Die Moritat ist keine geiststreichlerische Gattung. Sie ist kein „Lugaus der Phantasie“ (Ch. Morgenstern), sondern fußt auf der (bitteren) Realität. Eher entspricht sie einer Art 'Genre-Genre': volksliedhaft, nachrichtlich, sensationslüstern und stofforientiert. Als eine Art erbauliche Schauermär dient sie zuvörderst der Unterhaltung. Ob in schlichtem Reimkorsett oder als multimediale Performance dargeboten (da nicht selten von Musik und/oder Bildern, sog. „Moritatentafeln“, begleitet), erzählt sie von Unglücken, Schicksalsschlägen und Missetaten und berichtet in durchaus grotesk galgenhumoriger, manchmal makabrer Manier davon, was sich irgendwo in der Welt an Furchtbarem zutrug.

Dabei kann die Moritat einen politischen Impetus haben wie bei Christa Reinig oder Bob Dylan, tragikomisch daherkommen wie bei Bertolt Brecht und seinen Zeitgenossen oder sie kann, wie bei den vielen, heute namenlosen Vertreterinnen eines ausgestorbenen Berufszweigs – denn Moritatensänger*in war lange Zeit ein tatsächlicher Beruf –, einfach einen Tathergang konkret, detailliert und illustriert zwecks Warnung ihrer Hörer*innen darstellen. Im slawischen Raum, der mit den oft blinden (und im Kindesalter absichtlich geblendeten) „dziady“ bzw. „lirniki“, späten Troubadour-Nachfahren, und ihren Drehleiern eine große Moritatentradition kennt, kommt häufig auch eine religiöse Komponente, gekoppelt an das Wunder, ins Spiel.

Im Rahmen meiner Veranstaltung sollen Moritaten-'Patterns' verschiedener Herkunft betrachtet und nach eingehendem Quellenstudium samt Inventar neu und aktuell inszeniert werden, wobei Appropriationen und intermediale Experimente erwünscht sind. Ziel ist es, eine Art Moritaten-Progrämmchen hervorzubringen, das sich thematisch aus der uns umgebenden Wirklichkeit speist, zeitgleich der Flut von katastrophalen Nachrichten, belanglosen Tweets, Pushs, Feeds usw., der wir täglich ausgesetzt sind (und die dichtend zu verwerten ich aufrufen möchte), eine Kunstform im Bänkelstil entgegensetzt.

Wer ein Faible hat für tragikomische, groteske Poesie und sich nicht scheut, das Lotterholz selbst in die Hand zu nehmen, um etwa eine Tannzapfentiermoritat zum Besten zu geben oder von der Vergiftung aus der Unterhose zu singen, sei herzlich willkommen.

Prüfungsmodalitäten

- Regelmäßige Teilnahme an den Veranstaltungsblöcken

- Bereitschaft zu Lektüre und Diskussion

- Intermediale Verfertigung von „Moritaten“

Anmerkungen

Zum ersten Hineinblättern: Wolfgang Braungart, Bänkelsang. Texte – Bilder – Kommentare, Stuttgart, Reclam 1985.

(Gescannte Textauszüge, Songs, Bilder und eine Bibliographie gibt es per Mailanfrage bei mir ab dem 10.2.)

 

 

 

 

 

 

Schlagwörter

Moritat; Bänkelsang

Termine

03. März 2021, 09:30–13:30, „Zoom-Veranstaltung“
17. März 2021, 09:30–13:30, „Zoom-Veranstaltung“
28. April 2021, 09:30–13:30 Online-Veranstaltung, Zoom
12. Mai 2021, 09:30–13:30 Online-Veranstaltung
23. Juni 2021, 09:30–13:30 Seminarraum Sprachkunst

LV-Anmeldung

Von 01. Februar 2021, 00:00 bis 28. Februar 2021, 23:55
Per Online Anmeldung

Mitbelegung: möglich

Besuch einzelner Lehrveranstaltungen: möglich