Jean-Jacques Rousseau und die Folgen für die Kunst
Helmut Draxler
Institut für Kunstwissenschaften, Kunstpädagogik und Kunstvermittlung, Kunsttheorie
2016S, Vorlesungen (VO), 2.0 SemStd., LV-Nr. S01141
Beschreibung
An Jean-Jacques Rousseau scheiden sich die Geister. Den einen gilt er als ebenso heroischer wie genialer Verfechter einer unbedingten Freiheit und der wahren Republik, den anderen als Zwangsneurotiker, dessen Thesen direkt auf die schlimmsten Auswüchse des Totalitarismus hinzuweisen scheinen. Beide Sichtweisen konvergieren in der besonderen Form von Kritik, die sich auf Rousseau zurückführen lässt. Denn Rousseau begründet nicht einfach die moderne Zivilisations- und Kulturkritik; er verleiht dieser eine besondere Stimmung. Indem er eine moralische Naturauffassung als ebenso innere wie äußere Wahrheitsquelle ins Spiel bringt, stilisiert er die eigene introspektive Erfahrung zur universellen Einsicht. Das macht ihn argumentativ stark und gleichzeitig extrem paranoid. Mit ihm etabliert sich eine spezifische Variante des bürgerlichen Denkens, das immer schon über das Ziel, einen Gegenstand adäquat zu erfassen, hinaus schießt. Dabei werden Wahrnehmung und Wertung miteinander verschmolzen bzw. die jeweiligen Wertungen an einem objektiven Ideal bemessen, das jeder Diskussion strukturell entzogen sein und doch immer erst subjektiv aufgerufen werden muss. Vor dem Tribunal dieser Natur kann letztlich nur einer bestehen, Rousseau selbst. Hier zeigt sich die Figur des im Imaginären gefangenen Denkens, und gerade darin ist Rousseau unendlich einflussreich geworden. Die Folgen für die Kunst lassen sich dahingehend umreißen, dass sich von ihm ausgehend sowohl das moderne Ausdrucksverständnis, das den Expressionismus ermöglichende Menschenbild, als auch die Institutionskritik herleiten lassen. Beide, in den kunstkritischen Diskursen der Gegenwart meist für gegensätzlich gehaltenen Tendenzen werden in dieser Perspektive als zwei Seiten derselben Sache sichtbar. Die Sache selbst, das ist der Riss, der in der Folge Rousseaus das ästhetische und politische Denken des Idealismus heimgesucht hat.
Vorlesung wie Seminar gehen den Ambivalenzen und Widersprüchen zwischen Einzelnem und Allgemeinen, Ausdruck und Kritik, Sozialität und Einsamkeit im Denken Rousseaus nach und verfolgen diese im ästhetischen Denken bis in die Gegenwart.
Literatur:
Ernst Cassirer, Über Rousseau, Berlin (Suhrkamp) 2012
Iring Fetcher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1975
Hennig Ritter, „Vorwort“, in: Hennig Ritter (Hg.), Jean-Jacques Rousseau. Schriften. Band 1, Frankfurt am Main, Berlin, Wien (Ullstein) 1978
Maud Meyzaud (Hg.), Arme Gemeinschaft. Die Moderne Rousseaus, Berlin (b_books) 2015
Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983
Paul de Man, „The Rhetoric of Blindness: Jacques Derrida’s Reading of Rousseau“, in: Paul de Man, Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, Minneapolis (The University of Minnesota Press) 1983, S. 102 - 140
Hans Robert Jauss, „Der literarische Prozess des Modernismus von Rousseau bis Adorno“, in: Hans Robert Jauss, Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1989, S. 67 - 103
Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1996
Elena Russo (Hg.), Exploring the Conversible World. Text and Sociability from the Classical Age to the Enlightment, Yale French Studies Number 92, New Haven (Yale University) 1997
Studienplanzuordnung
Mitbelegung: möglich
Besuch einzelner Lehrveranstaltungen: möglich